Leseprobe:
Die Entführung
Seit nur noch wenige Menschen in diesem Gebiet lebten, war die Luft viel klarer und das Grün der Pflanzen viel intensiver geworden. Ich konnte daran nichts Schlimmes finden. Wenn man genau hinsah, erkannte man meine Silhouette unter dem silbern schimmernden Mond. Es war eine laue Sommernacht. Die warme Luft unter meinen Flügeln ließ mich mein knappes Pfund Gewicht kaum spüren. Ich genoss die Freiheit. Nichts störte meinen Flug. Langsam glitt ich über Wittens größtes zusammenhängendes Waldgebiet: mein Revier. In der Ferne hörte ich eine Maus fiepen. Lautlos näherte ich mich meiner Beute. Nur ein Waldkauz wie ich konnte sich derart leise bewegen. Die Maus hatte keine Chance. Meine messerscharfen Krallen schlugen in ihr Genick. Mit dem Kopf im Nacken schluckte ich den noch warmen, blutigen Körper in einem Stück herunter. Befriedigt bewegte ich mich wieder in die Luft. Nahrung gab es für mich in Hülle und Fülle.
Seit die Seuche vor einigen Jahren die meisten Menschen und viele der großen Säugetiere dahingerafft hatte, vermehrten sich die kleinen Nager massenhaft. Und nur ein alter Habicht machte mir Konkurrenz bei der Jagd. In Durchholz, einem beschaulichen Vorort von Witten, wo ich im Giebel eines verlassenen Bauernhofs meinen Unterschlupf hatte, gab es schon vor der Katastrophe nur wenige Menschen. Jetzt lebte nur noch eine Familie hier. Erik, seine Frau Irinskat und ihre kleine Tochter Nanuk. Das große Haus, in dem sie wohnten, war ein kleines Paradies. Das Paar hatte die schönsten Sachen, die im ausgestorbenen Durchholz zu finden waren, zusammengetragen. Im Garten gab es Klettergerüste und einen großen Schwimmteich für Nanuk. Das Gelände war mit einer großen Bruchsteinmauer abgesichert. Auf der Mauer wand sich meterweise S-Draht. Der Garten war Nanuks Reich. Hier tobte sie den ganzen Tag herum. Wenn ich in der Dämmerung zu ihr flog, kreischte sie immer und tat so, als würde sie sich vor mir erschrecken. Dann lachte sie laut los. Das Spiel war schon zum Ritual geworden. Manchmal saß sie aber auch nur ganz ruhig am Pool und schaute traurig ins Leere. »Mom, warum gibt es hier keine anderen Kinder zum Spielen?«, fragte sie dann, und Irinskat nahm sie nur stumm in den Arm.
Erik, der fast zwei Meter große Menschenmann, war heute Morgen an mir vorbei Richtung Stadt gelaufen. Die rhythmischen Bewegungen seiner geschmeidigen Muskeln ließen die langen braunen Haare wild um seinen Kopf fliegen. Trotz seiner abgewetzten Kleider machte er, mit dem über den Rücken gebundenem Schwert, einen imposanten Eindruck. An seiner Seite der große Germanische Bärenhund Odin, siebzig Kilo Muskeln. Sein Kopf war riesig. Die großen Pfoten würden mich komplett unter sich begraben. Meistens betrachtete er die Welt ein bisschen schläfrig, und niemand wäre auf den Gedanken kommen, dass sich dieses Tier schnell bewegen könnte. Mit Odin verband mich etwas. Ich verstand es nicht, aber es war da. Er bemerkte sofort, wenn ich in seine Nähe kam. Dann stahl sich immer ein belustigtes Leuchten in seine Augen. Ich fühlte dabei so etwas wie eine leichte Berührung in meinem Kopf. Es machte mir Angst! Aus purer Langeweile begleitete ich die beiden durch den friedlich wirkenden Wald bis zur Stadtgrenze. Dann wurde ich ein wenig durch Lea, einem niedlichen Waldkauzmädchen, abgelenkt. Lea war das heißeste Käuzchen der Gegend. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und unter meinem Gefieder wurde mir ganz warm.
Ich versuchte alles, um sie in mein Nest zu locken. Heute brachte ich ihr die fetteste Maus, die je von einem Kauz gefangen wurde. Ich zeigte die halsbrecherischsten Flugmanöver, die ein Waldkauz vollbringen kann. Es half alles nichts, sie ließ mich abblitzen. Wie immer. Nach diesem Desaster zog ich frustriert meine Kreise im Wald. Erst die kleine Zwischenmahlzeit besserte meine Stimmung wieder auf. Im Wald war es jetzt unnatürlich still. Kein Laut war zu hören. Beunruhigt schraubte ich mich hoch in die Luft. Irgendwas stimmte hier nicht. Da sah ich Erik wie einen Irrwisch durch den Wald jagen. Den großen Hund lautlos rennend an seiner Seite. Ich schraubte mich höher in die Luft. Nun sah ich den Grund für Eriks Eile: Ein Dutzend Roks, die über eine Lichtung eilten. Mutanten, die kaum noch menschliche Züge hatten. Entstellt von der Seuche. Kahle Schädel, mit Zähnen wie Raubtiere, und Händen, die an Klauen erinnerten. Am ganzen Körper behaart, trugen sie nur Shorts. Alle waren bewaffnet. Rostige Schwerter, schartige Messer und schwere Äxte waren zu erkennen. Roks töteten alles, was ihnen begegnete. Sie wurden von einem unbändigen Hass auf alle Lebewesen getrieben. Einige von ihnen fraßen auch Menschenfleisch. Diese Mutantenmeute bewegte sich zielstrebig auf Eriks Haus zu. Dabei waren sie erstaunlich leise. Ich hoffte, Erik würde sie rechtzeitig stoppen. Als würde er meine Gedanken lesen, schaute mich der große Hund mitten im Laufen an. Ich kreischte auf. Irgendetwas berührte meinen Geist. Fester und intensiver als sonst. Der Hund blickte seinen Herrn an. »Okay!« Nur dieses eine Wort, und Odin schoss los. Sekundenschnell holte er die Mutanten ein. Ich flog tiefer, um besser sehen zu können. Da lagen bereits zwei der Roks mit zerfetzter Kehle im Dreck. Der Rest der Meute bildete einen Kreis, damit der Hund sie nicht einzeln angreifen konnte. Wütend schwangen sie ihre Waffen. In diesem Augenblick kam der Mann über sie. Sie mussten erleben, dass die größte Gefahr nicht von dem Hund ausging. Der war der Harmlose des Duos. Erik hatte sein antikes Samurai-Schwert in der Hand. Die zarten Runen im Griff glühten. Die gleichen Runen, die auf Eriks Schulter tätowiert waren...
Die Armeezeit
Pionierkaserne auf der Schanz (Ingolstadt).
Gelangweilt lag Erik auf seinem Bett. Nun war er bereits zwei Jahre als Einzelkämpfer bei der Truppe. Aber abgesehen von gelegentlichen Manövern verlief sein Leben ereignislos. Einzig der Abtransport des syrischen Giftgases im letzten Jahr hatte seinen monotonen Alltag unterbrochen. Der Einsatz, den er mit dem Gebirgspionierbataillon begleitet hatte, verlief ohne Zwischenfälle. »Hajo, Lust auf ’ne Runde Sparring?« Erik gab dem Bett über sich einen Tritt. »Nö, ist mir zu öde mit dir. Du verlierst ja doch.« »Stimmt, aber nur, weil du mit linken Tricks arbeitest.« »Der Zweck heiligt die Mittel. Du hast noch nie gewonnen.« Hajo sprang aus dem Bett. Mit seinen ein Meter fünfundsiebzig war er über zwanzig Zentimeter kleiner als Erik. Seine blonden Haare waren kurzgeschoren. Ein krasser Gegensatz zu Eriks langer Mähne. Sie stammten beide aus Witten. Waren schon zusammen zur Grundschule gegangen. Als sie älter wurden, fanden sie es cool, sich als Einzelkämpfer ausbilden zu lassen. Das Abenteuergefühl war inzwischen purer Langeweile gewichen.
»Was stellen wir dann an?« »Lass uns ins Shamrock gehen. Ein bisschen Tanzen, Darten, ein oder zwei Kilkennies. Da kriegen wir den Abend schon rum.« »Tanzen? Was sagt denn deine Frau dazu?« »Was sie nicht weiß …« Erik musste lachen. Hajo war ein unverbesserlicher Schürzenjäger. Aber er liebte seine Frau und seine beiden Kinder über alles. So schickte er am Ende des Abends doch jede andere Frau alleine nach Hause. »Okay, gib mir noch ’ne halbe Stunde. Dann können wir los.« Erik war solo. Er freute sich auf den Pub. Hier kam man nicht so oft raus. Zudem war Henry, der Chef vom Shamrock, ein netter Kerl. Als sie loszogen, versank gerade die Sonne als glutroter Ball hinterm Horizont. Das Shamrock war noch leer. Leise dudelte irische Musik aus den Lautsprechern. Henry polierte geschäftig die Theke. »Zwei Kilkenny und ’ne Flasche von deinem besten Whisky!«, rief Hajo. »Kommt sofort. Mach mir heute nicht wieder die ganzen Mädels wild, Hajo.« »Mach ich nie«, grinste Hajo, schnappte sich die Dartpfeile und zog Erik mit zur Scheibe. »Der Verlierer zahlt.« »Okay, hoffentlich hast du genug Geld.« Die Zeit verging wie im Flug. Nach der ersten Flasche Whisky fanden die Darts nur noch selten ihr Ziel. Inzwischen war das Shamrock gerammelt voll. Hajo drängte sich zur Theke. »Noch ’ne Flasche, Henry!« Leicht torkelnd kämpfte Hajo sich zurück zu Erik. »Verdammt was los hier«, lallte er. »Jau.« Erik nahm ihm die Flasche ab, goss sich das Whiskyglas voll und kippte es auf Ex weg. »Und verdammt gutes irisches Wasser.« Schief grinsend warf er die Darts. »Dreimal Bull’s Eye? Du willst mich verarschen.« Hajos Augen fielen ihm bald aus dem Kopf. »Alles eine Frage der Konzentration«, lallte Erik und sank auf den Boden. »Hast gewonnen.« Hajo ließ sich neben ihn sinken. »Auf deine Frau.« Erik machte die Gläser voll. Nachdem sie auch die zweite Flasche vernichtet hatten, machten sie sich gutgelaunt auf den Rückweg. Da spürte Erik einen Schlag in den Rücken. Benommen stolperte er nach vorn. »Scheiße, was soll das?« »Bleib liegen, dann passiert dir nichts!« Wie durch Nebel erkannte Erik, dass zwei Typen Hajo festhielten, während der Gesprächige gemächlich auf ihn einschlug. »Du lässt die Finger von meiner Frau!« Bei jedem Wort ein Schlag ins Gesicht. Hajo sah nicht begeistert aus. »Verdammt, lasst ihn los! Er hat’s bestimmt kapiert.« Erik kämpfte sich hoch. »Ronk.« Schon wieder sah er Sterne. »Fresse! Du hast Pause.« Nachdem ihm der Typ die Nase gebrochen hatte, widmete er sich wieder Hajo. Erik spürte, wie eine Flamme innerlich an ihm empor züngelte. Er stieß ein leichtes Grollen aus. Ein gelbes Leuchten stahl sich in seine Augen. Die Hitze erfasste seinen Kopf. Das Grollen wurde lauter. Im Aufstehen trat er dem Redner die Beine weg. In derselben Bewegung zertrümmerte seine Faust den Kiefer des linken Halters. Der ging schreiend zu Boden. Das Grollen schwoll weiter an. Der dritte Mann suchte kreidebleich das Weite. Nicht so der Redner. »Was jetzt passiert. Hast du dir selbst zuzuschreiben.« Mit wirbelnden Händen und Füßen ging er auf Erik los. Der nahm zwei Schläge und lächelte. Das gelbe Licht in seinen Augen wurde stärker. Der Redner wich unsicher zurück. Normalerweise fiel jeder um, den er so traf. »Erik, lass gut sein!«, rief Hajo, der langsam wieder auf die Füße kam. Genauso gut hätte er mit den Bäumen reden können. Erik war wie in Trance. Lächelnd bewegte er sich auf seinen Gegner zu. Der hatte sich wieder gefasst und griff an. Statt auszuweichen, ging Erik in den Angriff rein und brach mit seinem Tritt dem Redner locker das Knie. Noch während er zusammenbrach, zuckte Eriks Handkante gegen seinen Kehlkopf. Einmal! Zweimal! Dreimal! »Erik, hör auf!« Erik lächelte immer noch. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und zerschmetterte dem Redner aus der Drehung das Genick. In diesem Augenblick warf sich Hajo auf Erik. »Verdammt, hör auf!« »Hajo? Was tust du? Geh runter von mir!« Erik fühlte nur dumpfes Pochen in den Schläfen. »Guck nach links, du Idiot! Was hast du dir dabei gedacht?« Fragend drehte Erik den Kopf – und sah in die brechenden Augen des Redners. Langsam rann das Blut aus seinen Augen und Ohren auf den Asphalt. Erik riss die Augen auf. »Was ist passiert?« »Ich dachte, das sagst du mir. Du bist völlig ausgeklinkt. Der Typ ist mausetot. Und du wolltest ihn noch weiter töten.« »Ich …« Erik fühlte sich nur leer. In der Ferne hörten sie die Sirene der Militärpolizei. Hajo half ihm auf die Füße. »Am besten, wir warten hier. Abhauen macht keinen Sinn. Und schließlich haben die drei uns angegriffen.«
»Okay, was immer du sagst«, flüsterte Erik. Erik kam vor das Militärgericht. Und er hatte Glück, viel Glück. Trotz Hajos Aussage wäre er für lange Zeit weggesperrt worden. Wenn nicht die Armee nach einem halben Jahr seiner Einzelhaft dringend Freiwillige für den Abbau von Biowaffen aus Syrien gebraucht hätte. Als er aus dem Bau kam, wurde er von Hajo abgeholt. »Hier von meiner Frau.« Damit reichte er Erik einen großen, selbstgebackenen Kuchen. »Hast du schon gehört?« »Danke. Was denn?« »Wir gehen zusammen nach Syrien.«..."