Tiefer Fall
Dieser Morgen war sonnig und klar.
Er passte perfekt zu meinem Leben. Ich joggte mit meinem Hund um den Kemnader See. Dabei ließ ich meine Gedanken schweifen. Nichts entspannt mehr, als ein gemütlicher Dauerlauf. An diesem Sonntagmorgen war ich besonders zufrieden mit mir. Es war mir gelungen, zwei Mitarbeiter aus meiner Großmetzgerei zu entsorgen. Schließlich ging es nicht an, dass sich meine Angestellten, Wurst in die eigene Tasche steckten. Mit Hilfe eines Privatdetektives und einigen Überwachungskameras konnte ich die zwei überführen. Der Detektiv half mir auch, die beiden Strolche zur Kündigung zu bewegen. Wie gesagt, ich war sehr zufrieden mit mir. Niemand verarscht Thomas Müller!
Nach dem Laufen fuhr ich nach Hause in den Parkweg. An diesem sonnigen Tag störte es mich auch nicht, dass niemand in meiner Villa auf mich wartete.
Meine Frau hatte kein Verständnis mehr dafür, dass ich täglich vierzehn Stunden arbeitete und war vor einem Jahr mit den beiden Kindern ausgezogen. Seitdem versuchte sie mich auszunehmen. Aber meine Anwälte hatten das im Griff.
Ich versorgte den Hund, holte die Post und ließ mich mit einem Gläschen Chablis auf dem Sofa nieder.
Die Post war der übliche Quatsch: Rechnungen, der Anwalt meiner Frau und jede Menge Werbung.
Da klingelte es. Ein hässlicher Mann in einer blauen Uniform stand vor der Tür.
„Guten Tag, Mein Name ist Hoff. Sind Sie Herr Thomas Müller?“
„Wer will das wissen? Und wozu?“ Meine gute Laune bekam erste Risse.
„Ich bin Justizwachtmeister und habe eine Zustellung für Herrn Thomas Müller. Sind Sie das?“
„Ja, ja, geben Sie her, das Ding. Was soll das denn sein?“
„Augenblick, bitte. Das muss alles seine Richtigkeit haben. Wenn Sie mir den Erhalt bitte quittieren würden?“
„Ja, verdammte Bürokratie. So, fertig.“
Der Beamte gab mir das Schreiben und verabschiedete sich.
Ich riss den Wisch auf und stutzte. ‚Anklageschrift‘ stand darauf. Ich setzte mich erst mal.
In dem Schreiben stand jede Menge Unsinn. Ich sollte meine Mitarbeiter überwacht, genötigt und sogar bedroht haben. Unglaublich. Hielten die Behörden jetzt schon jeden minderbemittelten Hilfsverkäufer für glaubwürdig? Ich ging sofort rüber in die Nachbarvilla zu meinem Anwalt.
Der las sich das Schreiben ganz in Ruhe durch. „Kein Problem“, meinte er, „das machen wir schon. Die haben nichts in der Hand.“
Beruhigt, die Angelegenheit in fähige Hände gelegt zu haben, widmete ich mich wieder meinem Chablis.
Am nächsten Morgen stand mein Fall in der Presse. Nicht nur im Lokalteil, nein, es war die Titelstory der WAZ. Erbost rief ich den Chefredakteur an.
„Rico, was soll der Mist. Sieh zu, dass ich aus den Schlagzeilen verschwinde.“
„Tut mir leid, Thomas, Pressefreiheit.“
„Spinnst du? Denk mal dran, was ich alles für dich gemacht habe!“
„Keine Chance. Da musst du durch.“
Wütend schmiss ich den Hörer auf die Gabel.
Wer glaubte der Penner, wer er war. Ich hatte schließlich jahrelang alle seine Urlaube bezahlt.
Zur Ablenkung fuhr ich meinen PC hoch, um meine neue Werbekampagne auf Facebook zu kontrollieren. Aber irgendwie hatte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Auf Facebook war ein shitstorm gegen mich im Gange. Wütend rief ich meinen Medienberater an. Der ging nicht ans Telefon. Also nahm ich meinen goldenen, Siebener BMW und fuhr in meine Metzgerei mit Ladenlokal. Ich schritt durch die Tür und stutzte. Kein einziger Kunde im Laden. Sofort holte ich meine Geschäftsführerin ran.
„Guten Tag, Herr Müller.“
„Zur Sache, Frau Rische, was ist hier los?“
„Nun gut. In allen Filialen bleiben die Kunden aus. Ihr Medienberater und Ihr komplettes Design-Team haben sich krank gemeldet. Und es sieht so aus, als ob der Rest Ihrer Mitarbeiter bald nachziehen wird.“
Bis hierhin hatte ich die Situation noch nicht richtig ernst genommen. Jetzt fing ich an zu schwitzen, alles drehte sich, meine Knie gaben nach. Als ich wieder zu mir kam, kniete Frau Rische neben mir. „Geht`s wieder? Sie waren plötzlich weggetreten.“
„Ja, schon O.K.“ Ich stand auf und wankte in mein Büro.
Zwei Monate kämpfte ich gegen die Presse, die öffentliche Meinung im Internet und um meine Kunden. Ich verlor in jeder Beziehung. Die WAZ brachte jeden Tag eine Negativschlagzeile über mich. Leider stimmte das meiste davon. Durch Facebook beeinflussten meine Gegner die Kunden. Nach den zwei Monaten war klar; ich musste schließen.
Kurz darauf folgte die Gerichtsverhandlung. Mein Anwalt versicherte mir immer wieder, es könne nichts passieren, wir hätten die besseren Karten. Nun, mein Anwalt verdiente sein Geld, und ich wurde zu dreieinhalb Jahren ohne Bewährung verurteilt. Zu der Nötigung und Bedrohung waren noch zahlreiche weitere Anklagepunkte hinzu gekommen.
Ich hatte ein halbes Jahr Zeit, mich um meine Geschäfte zu kümmern. Als ich mich dann in der Justizvollzugsanstalt Bochum zum Strafantritt stellte, war ich ein armer Mann. Mit dem Verkauf der Firma, der Villa und meines Autos kam ich gerade schuldenfrei aus der Geschichte, aber es blieb nichts übrig. Selbst meinen Hund musste ich an meine Frau abgeben.
So hatte ich alles, was ich noch besaß, bei mir, als ich den Knast betrat. Das nahm man mir dann dort auch noch weg. Ich musste mich ausziehen, unter
Beobachtung duschen, meine Sachen wurden durchsucht, anschließend bekam ich Gefängnissachen zum Anziehen und etwas, dass sie „Bündel“ nannten; eine Wolldecke in der ein paar Tücher, Besteck und Geschirr eingerollt waren. Ein Beamter brachte mich zu meiner Zelle, einer Notgemeinschaft, wie er es nannte. Ich betrat den Raum zitternd, mit Angstschweiß auf der Stirn. Es gab drei Pritschen, von denen zwei besetzt waren. Das Klo war mitten im Raum, nur durch eine Schamwand abgetrennt. So weit war ich nun gesunken.
Zumindest war meine Angst vor den zwei Typen unbegründet. Nachdem wir uns bekannt gemacht hatten, waren sie sogar ganz nett. Horst war schon fünfzig, von oben bis unten tätowiert. Er saß, weil er das Klauen nicht sein lassen konnte. Miro, ganz ohne Tätowierungen, war wohl nicht ganz so harmlos. Schwerer Raub und gefährliche Körperverletzung waren nur zwei der Taten, von denen er erzählte. Er hatte insgesamt vierzehn Jahre bekommen.
Heute weiß ich, dass ich mit den beiden unheimliches Glück hatte. Alleine hätte ich keine Woche überlebt. Ich konnte nicht kämpfen und Geld, um mich aus Problemen raus zukaufen, hatte ich auch nicht. Die Zwei deckten mir vom ersten Tag an den Rücken.
So lernte ich erst einmal ein Jahr lang Demut. Außer meinem Anwalt besuchte mich niemand. Aber auch wenn es schwer zu glauben ist, ich war zufrieden.
Durch Zellenarbeit hatte ich etwas Geld verdient. So konnte ich mir einen Fernseher leisten und alles an Lebensmitteln, was ich brauchte.
Als Horst entlassen wurde, gab er mir noch einen letzen Tipp: „Als Unternehmer wirst du kaum noch ‘ne Chance bekommen. Wenn du nicht so enden willst wie ich, versuch im Knast in Langendreer ‘ne Ausbildung zu machen.“ Dann war Horst frei. Geschafft hat er es nicht. Der Abteilungsbeamte hat mir gesteckt, dass er sich eine Woche nach seiner Entlassung im Stadtpark erhängt hat. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich hemmungslos geheult. Seinen Rat habe ich befolgt. Ich beantragte die Verlegung in den offenen Vollzug nach Bochum-Langendreer. Problemlos bekam ich meine Chance. Was folgte, war die härteste Zeit meines Lebens. Ich ließ mich zum Landschaftsgärtner ausbilden. Ohne die Rückendeckung von Horst und Miro musste ich mit fast zweihundert weiteren Gefangenen auskommen. Nicht zu vergessen die Ausbilder und Beamten.
Nach knapp drei Jahren Haft wurde ich vorzeitig entlassen. Meine Gesellenprüfung hatte ich mit glatt eins abgeschlossen und durch Vermittlung der JVA einen Arbeitsplatz bekommen. Noch nie in meinem Leben war ich so stolz. Meine alten Bekannten hätten mich nicht wieder erkannt. Ich war durchtrainiert, zuvorkommend, und von meiner früheren Arroganz war nichts geblieben.
Während meiner Hafturlaube hatte ich eine nette Frau kennen gelernt.
Ich war tief gefallen, aber der Fall hat meine Seele gerettet.
Der Morgen, als meine Freundin mich zur Entlassung abholte war sonnig und klar.